Der Kind gebliebene Zweifler und Spieler – Nachruf auf Jörg Jannings

Von Matthias Thalheim

14.11.1930 – 20.10.2023

Dass Jörg Jannings als Knabe hin und wieder auf dem Schoß des Generalfeldmarschalls Hermann Göring saß, davon hat er nur selten und wenigen berichtet, womöglich schauderte ihm diese Vorstellung selber sehr. Dass sein berühmter Onkel Emil Jannings, der als erster Schauspieler 1929 eine goldene Oscar-Statuette nach Deutschland brachte, ihn – seinen kleinen Neffen Jörg – ob eigener Kinderlosigkeit sehr liebte und viel Zeit mit ihm verbrachte – davon erzählte der Hörspielregisseur Jannings in reiferen Jahren bei Gelegenheit. Dann konnte die Rede auch auf Spritztouren im Automobil in die Schorfheide kommen, nach „Carinhall“ – Görings Jagdresidenz und Kunstdepot, wobei Jörg sich als Vorschulkind viel mehr von den an Görings Seite laufenden jungen Löwen begeistern ließ, als von den gigantischen Modelleisenbahn-Platten, die der Reichsjägermeister in Dachgeschoss und Souterrain seines 11.000 qm „Wohnfläche“ umfassenden Anwesens vorführte.

Mit diesen Kindheitsepisoden im Nacken beginnt der in Berlin West-End geborene Jörg Jannings nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine künstlerische Laufbahn zunächst als Darstellereleve am Tiroler Landestheater Innsbruck, während sein Onkel am Wolfgangsee bis 1950 seine letzten trüben Lebensjahre unter einem von den Alliierten verhängten Auftrittsverbot verbringt. Nach Assistenzen bei der Bavaria in München geht Jörg Jannings 1953 nach Berlin ins DEFA-Dokumentarfilmstudio, wo er den niederländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens kennenlernt. Ende 1957 beginnt Jannings in der Kufsteinerstraße 69 seine Radioarbeit beim RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), erlernt beim damaligen Oberspielleiter Hanns Korngiebel das Hörspielhandwerk und begleitet von 1960 bis 1968 als Tonregisseur die Sendereihe „Mit dem RIAS ins Theater“. Das waren vom Kritikergenie Friedrich Luft im Flüsterton erläuterte Tonmitschnitte West-Berliner Theatervorstellungen. Ab 1962 arbeitet er hauptsächlich als Hörspielregisseur und wird 1963 Korngiebels Nachfolger als Abteilungsleiter und und und …

Tage und Nächte, Tächte und Nage im Spörstiel-Siduo, die idotische Radiomühle 52 Programmwochen pro Jahr – dieser Auslaufrille wollte Jannings, der Kind gebliebene Zweifler und Spieler, keineswegs erliegen. Seit seinen makabren Kindheitsbekanntschaften, seit dem Staksen durch den verharschten Schlamm-Drüber-Schnee lässt ihn das Grübeln über diesen abgründigen Humanismus, mit deutscher Klassiker-Bordüre bestickt, nicht los. Dass die schrecklichsten Gräueltaten jene Ehren-Rezitatoren von Rilkes „Cornet“ verübten, die Massenmorde mit der Klavieretüde am Morgen …

Es ist der in Budapest geborene Autor und Charismatiker George Tabori, mit dem gemeinsam Jörg Jannings ein schwankendes Halteseil von der Bühnenrampe über Parkett und Rang ins Hörspielstudio zu den Radiohörern dies- und jenseits der Mauer spannt: Hörspiele wie „Weißmann und Rotgesicht“ (1978, auch Prix Italia), „Mein Kampf“ (1988) oder „Mutters Courage“ (1979) hat der UKW-Rundfunk in Jannings‘ Inszenierungen mit den großartigen Protagonisten per RIAS in den deutscher Äther verschickt. Als eine Rettungsleine für die von Krieg, Nazigehabe und Kleingeist zerschundenen Seelen in nord-, ost- oder süddeutschen Nächten. Die Stimmen von Branko Samarowski, Brigitte Röttgers, Hermann Lause, Leslie Malton, Detlef Jacobsen, Ulrich Wildgruber und Tabori himself. Als hätte ein in Gärung geratener Weinballon seinen Pfropfen nicht mehr dulden wollen.

Das mag nun Jahre her sein, und es gäbe anderes noch zu berichten – wie Jannings sich um den aus Ost-Berlin in US-Army-Uniform geflohenen Komponisten Klaus Buhlert kümmert, um Hörspiele von Thomas Brasch, Irina Liebmann, von Katja Lange-Müller oder nach dem Mauerfall von Volker Braun und Christoph Hein.

Aber für dieses Dutzend Tabori-Hörspiele – vor allem diese Stunden erhellenden Trosts wegen, gebührt Ihnen, lieber stieseliger Jörg Jannings ein besonders überragender da capo-Beifall, den ein Radioregisseur ja nie zu hören kriegt.